Samstags-Interview im Blick vom 2. August 2003

Interview mit Helmut Ograjenschek

Die Raumfahrt steckt nach der Columbia-Katastrophe in der Krise – glauben Sie, dass sie eines Tages wieder zu einem Höhenflug ähnlich wie bei der Mondlandung durchstarten kann?

Was Sie eine Krise nennen, ist ein Versagen der zuerst bei der Sicherheit sparenden Bürokratie. Diese brauchte viele Jahre, um beim ingenieurmässig einmalig raffiniert konzipierten Shuttle-System erneut einen Unfall herauszufordern. In der Zukunft könnten es meiner Erfahrung nach faszinierende Entdeckungen auf Mond, Mars oder einem Trabanten bei Jupiter oder Saturn sein, welche bei Wissenschaftlern und dem Publikum durchaus wieder eine Euphorie wie zur Zeit der Mondflüge erzeugen. Man braucht dabei nicht einmal an die Entdeckung von Leben zu denken.

Es gibt skeptische Stimmen, die sagen, die Raumfahrt bringe die Menschheit nicht weiter – was ist Ihre Meinung?

Dies ist so falsch wie eh und je, denn die Raumfahrt hat direkt oekonomisch schon bisher ungleich mehr gebracht als sie gekostet hat: Satellitenkommunikation, weltweite Navigation, oekologische, meteorologische und auch der militärischen Sicherheit dienende Aufklärungsbilder aus dem All – mitsamt Zulieferern weltweit bereits eine 100-Milliarden-Dollar-Industrie pro Jahr! Abgesehen vom langfristigen Nutzen: Vermeidung von zivilisationsbedrohenden Planetoidenabstürzen, Verlagerung unerwünschter Industrien auf den Mond, Gewinnung ausserirdischer Energie und Rohstoffe sowie allgemeine Horizonterweiterung als Gegenpol zur wachsenden irdischen “Platzangst”.

Hat die Raumfahrt nicht etwas von ihrer ursprünglichen Faszination verloren?

Es mag sein, dass die endlose Wiederholung falscher und längst beantworteter Fragen diesen Eindruck da und dort hat aufkommen lassen, aber in einem meiner Vortragssäle würden Sie nichts davon spüren: allein die laufende Marsforschung begeistert die Zuhörer wie vor 30 Jahren!

Europa und Russland laufen derzeit in der Raumfahrt der Nasa etwas den Rang ab. Glauben Sie, dass die USA hier bald wieder die Führungsrolle übernehmen werden?

Wie bitte? Russlands Weltraumprogramm wäre ohne westliche Unterstützung schon gar nicht mehr da. Zum Glück ist es noch da! Europa hat zwar ein enormes Potenzial, aber eine Analyse laufender Projekte lässt Sie schnell erkennen, dass die USA mit dem einzigen Shuttle und als de facto Alleinerforscher des Sonnensystems von Merkur bis zu Neptun die Führungsrolle gar nie aufgegeben haben. Seien wir realistisch – Euro-Wunschdenken hat uns schon öfters zu Verlierern gemacht.

Früher klebte man förmlich am Bildschirm, wenn kühne Amerikaner oder Russen eine Rakete starteten – heute nimmt die Öffentlichkeit kaum noch Notiz davon. Was würde das Interesse der Menschen wieder wecken?

Erfahrungsgemäss sind es die gleichen Leute, welche unbemannte Raumfahrt propagieren, die hinterher sagen, es sei nicht mehr so spannend, sobald es keine bemannten Flüge mehr gibt! Was richtig ist: die von den Russen nach dem verlorenen Rennen zum Mond propagierten “Raumplattformen” haben mit Mir und ISS in eine Sackgasse geführt, welche erst mit neuen Expeditionen auf echte Welten wie den Mond oder Mars dereinst wieder verlassen wird.

An allen Ecken und Enden wird derzeit gespart, weil es der Wirtschaft schlecht geht – glauben Sie, dass das auch Auswirkungen auf künftige Raumfahrt-Missionen haben wird?

Zumindest bei der NASA bis jetzt noch nicht – ihr Budget ist erstaunlich stabil, während viele Programme gesamthaft billiger geworden sind, weil eine überreife Technik und eine nach neuen Märkten suchende Industrie bereit stehen. Man kann mit den gleichen Mitteln heute mehr machen. Ausserdem macht Arbeitsleistung Grosses möglich, nicht in erster Linie Geld, sonst wäre die Schweiz überall zuvorderst gewesen.

Was hat uns die Raumfahrt bisher gebracht – ausser neue Erkenntnisse über unser Sonnensystem?

Mein Raumfahrtlexikon auf DVD hat ein riesiges Stichwort mit Beispielen zu “Nutzen der Raumfahrt” – wo soll ich also mit einem Satz anfangen? Jeder in die Raumfahrt investierte Dollar oder Euro hat das Bruttosozialprodukt bisher bei jeder Raumfahrtnation um durchschnittlich vier Währungseinheiten vergrössert! Vergleichen Sie das einmal mit Sozialprogrammen oder einer Subventionslandwirtschaft…

Was sind die Vorteile einer bemannten Raumfahrt?

Flexibilität, Genialität bei der Lösung von Problemen unterwegs, grössere Faszination selbst bei allen “Zurückgebliebenen”.

Und wo liegen die Nachteile?

Der höhere Sicherheitsstandard und Grenzen bei der Miniaturisierung erzwingen höhere Kosten.

Wie wichtig ist die Raumfahrt für künftige Generationen?

Langfristige Sicherheit vor Gefahren von ausserhalb und innerhalb der Erde gibt es nur durch die Erweiterung unseres Lebensraumes auf unser ganzes Sonnensystem. Die Saurier hatten diese Möglichkeit noch nicht. Einer meiner Vortragstitel lautete “Ein zweiter Planet ist die beste Lebensversicherung”.

Stichwort Mars: weshalb ist es so wichtig, herauszufinden, ob es auf ihm jemals Wasser oder sogar Leben gab?

Zum Vergleich: Auf dem Mond hat es nur wenig Eis unter den schattigen Kratern an den Polen. Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff fehlen fast oder ganz. Auf Mars dagegen oder jedem Himmelskörper, wo sämtliche bei uns wichtigen Elemente vorkommen, kann man eine Zivilisation aufbauen, auch ohne die ganze Atmosphäre umzufunktionieren. Die wenigsten Leute in Las Vegas oder Dubai könnten heute ohne klimatisierte Gebäude vor Ort überleben, und trotzdem preisen alle das dortige Leben! Ursprüngliche Organismen z.B. auf Mars würden uns gar die eigene Existenz völlig neu überdenken lassen.

Der Mars – ist er eine neue Heimat für die Menschheit?

Für einige Millionen durchaus, für viele Milliarden kaum. Immerhin ein guter Anfang für die weitere Ausbreitung der irdischen Evolution.

Was müsste man tun, um ihn bewohnbar zu machen?

Nutzung der dortigen Rohstoffe. Die Wasserstofftechnologie anwenden, ohne die wir auch auf der Erde nicht auskommen werden, wenn Oel und Kohle in ferner, aber absehbarer, Zeit aufgebraucht sind. Häuser und Treibhäuser mit nach innen gekehrten Fassaden bauen, wie bei einigen der schönsten Hotels der Erde.

Wäre der finanzielle Aufwand nicht riesig, um dort ein paar wenigen Menschen das überleben zu garantieren?

Auch die Raumfahrt soll sich von einem bestimmten Punkt an selber finanzieren. Die Auswanderer sollen, ausgehend von einer ohnehin langsam wachsenden Infrastruktur im Planetensystem, für die Besiedlung ihrer Welt selber sorgen. Wie auf der Erde: es waren immer die Einwandererländer, welche hinterher für die Zurückgebliebenen sorgen mussten, nicht umgekehrt!

Was kommt nach dem Mars?

Ausser Mond und Mars gibt es noch ein paar “exotische” Destinationen, wo mit entsprechend grösserem Aufwand theoretische neue Welten geschaffen werden könnten: Saturnmond Titan, wo man möglicherweise im Wärmeanzug, aber ohne Druckanzug sogar frei herumgehen kann, oder dann die Schaffung unzähliger Riesen-Raumstationen aus dem Material von Planetoiden und Kometen. Arbeit für Jahrtausende. Falls es bis dann noch tüchtige und leistungsbereite Generationen gibt wie die Generation der Mondflieger nach dem 2. Weltkrieg, dann könnte man schliesslich mit solchen Riesen-Raumschiffen die ganze Milchstrasse besiedeln. Arbeit für Jahrmillionen. Gleich lang, wie wir gebraucht haben, uns von den übrigen Zweibeinern auf der Erde etwas abzusetzen.

Astronomen gehen heute davon aus, dass dereinst der Pluto die letzte Zuflucht der Menschheit sein wird, weil sich die Sonne zum roten Riesen aufblähen und die sonnennahen Planeten wie Merkur, Venus, Erde und Mars dereinst versengen wird. Glauben Sie das auch?

Nein. Wenn der Mensch in einigen Milliarden Jahren bis zum Erlöschen der Sonne noch keinen besseren Fluchtort als Pluto gefunden hat, dann wird er sowieso längst ausgestorben sein.

Bei aller Mars-Euphorie – wird dabei der Mond nicht ganz vergessen?

Ja, teilenswerte Ansicht. Der Mond ist nur Tage weg, nicht Monate oder gar Jahre. Dies hat man in jüngster Zeit wieder bemerkt, und als Übungsfeld für künftige Aktivitäten ist der Nachbar sehr willkommen. Seine geringe Schwerkraft wäre übrigens sehr reizvoll für die Bewohner dortiger Basen.

Könnte man dort nicht billiger als auf dem Mars eine Station errichten, um Grundlagenforschung zu betreiben?

Noch billiger auf der Erde oder in der Internationalen Raumstation ISS, aber bei der Erschliessung neuer Himmelskörper geht es um viel mehr als nur um Grundlagenforschung.

Würde sich der Mond als Abschussbasis für Raumsonden zu den Planeten eignen?

Nein, so lange Raumschiffe auf der Erde oder im Erdorbit gebaut werden. Wozu erneut in ein Gravitationsloch steigen, um die Startenergie zweimal zu bezahlen? Erst wenn Mond-Rohstoffe (womöglich unter Umgehung des Raketenprinzips) zum Bau von Starteinrichtungen und Raumschiffen nutzbar werden, dann beginnt sich die 21mal geringere Startenergie des Mondes im Vergleich zum Erd-Schwerefeld auszuzahlen.

Wäre es nicht besser, auf die Unsummen verschlingende internationale Raumstation ISS zu verzichten und gleich eine Station auf dem Mond zu bauen?

Hinterher ist man immer gescheiter. Viele Fachleute haben das auch immer gesagt, aber der Zeitgeist verlangte eben “Raumstationen”, weil die Bedeutung des Mondes nach der Gewaltleistung der ersten Landungen dort oben herabgemindert werden sollte.

Frage zum Schluss: würden Sie auch heute noch ins Weltall starten, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten?

Mit meiner derzeitigen Fitness, aber dem Komfort der übernächsten Generation von Raumfliegern – warum eigentlich nicht?

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