Kolumne im St. Galler Tagblatt 30. August 2003

«Irdische Erfahrungen aus Unfällen der NASA»
Kolumne im St.Galler Tagblatt am 30.8.2003

Kein Zweifel: Shuttle-Unfälle können nur der NASA passieren. Niemand sonst betreibt einen bemannten Raumtransporter. Russland und Europa hätten gerne einen gebaut und mussten es aufgeben. Die übrige Welt hat also mit Shuttles so wenig Probleme wie ein Analphabet mit der Rechtschreibereform. Somit darf ungeniert kritisiert werden.

Der US-Shuttle wurde 1972-1981 entwickelt, und startete 114mal. Beim 25. Mal exlodierte Challenger wegen undichten Boostern, und beim 114. Mal passierte es bei der feurigen Landung des Raketenflugzeuges, als die zweite von fünf gebauten Flugeinheiten, die Columbia, verloren ging. Beide Male starben sieben Astronauten. Unser Schweizer Astronaut Claude Nicollier hatte des exklusive Privileg, als einziger Nicht-Amerikaner viermal mit dem Shuttle zu fliegen. Er kannte die Risiken, fühlte sich aber immer sicher und verteidigte wiederholt die technischen Genialität des einzigen wiederverwendbaren Raumtransporters.

Ingenieure preisen noch heute die geniale anderthalbstufige Lösung. Diese wurde gewählt, weil zwei schwerere, voll wiederverwendbare, Stufen bei der Entwicklung enorme Kosten verursacht hätten. An einen einstufigen Shuttle durfte man damals schon gar nicht denken. Nach über 30 Jahren gilt beides immer noch: zweistufig würde sich nur bei sehr hoher Flugfrequenz lohnen, wäre zu teuer und nicht minder riskant. Einstufigkeit hat man nach einem lehrreichen Versuch vor einigen Jahren aufgegeben, weil die Physik immer noch die gleiche ist wie 1972.

Im Verlaufe der Raumfahrtgeschichte habe ich immer neue Beispiele zum Prinzip “Sparer leben gefährlich” gefunden. Auch die Wiederverwendbarkeit war aus Spargründen gefordert worden. Jede Komponente altert aber im gleichen Mass wie die Amortisation der Kosten – und die Zuverlässigkeit nimmt stetig ab. Gleichzeitig wird die Innovation verhindert, weil der technologische Stand eines Systems eingefroren wird. Bei Wegwerfraketen gilt das nicht. So war die gut gemeinte Sparlösung zu schlechter letzt sogar teurer geworden, weil billigere und modernere Bauteile nicht einsetzbar waren, sondern teure Kapazitäten zum Unterhalt veralteter Systeme bewahrt werden mussten.

In den letzten Jahren war immer mehr ein Management mit dem Betrieb der Raumtransporter beauftragt, das bei der seinerzeitigen Entwicklung des Systems gar nicht mehr dabei war. Die Kluft zwischen sattelfesten Ingenieuren und den zur Einhaltung des Budgets verpflichteten Flugkontrolleuren wurde immer tiefer. Insider formulierten es so: Man sollte von kritischen Ingenieuren nicht verlangen, dass sie den Beweis erbringen, ein System sei unsicher zum fliegen. Es sollte vielmehr an den Managern der Organisation mit ihrem de-facto Vetorecht liegen, den Beweis für die Flugsicherheit aller Systeme zu liefern! Bei der NASA war man sich dessen voll bewusst, und hatte diese Erkenntnis auch schon beim Challenger-Unfall bestätigt bekommen, aber niemand sah eine Möglichkeit, das immer durchzusetzen.

Diesmal schlug der Fehlerteufel in der bekanntermassen heiklen Phase des Wiedereintrittes zu, wo ein Orbiter mehr Bewegungsenergie vernichten muss, als zur Verdampfung desselben nötig wäre! Nicht etwa mit abdampfenden Einweg-Hitzeschilden wie bei früheren Kapseln – nein, mit wiederverwendbaren, und möglichst nicht einmal angesengten! Was einst unmöglich galt, war für Unkundige schon selbstverständlich geworden. Die Columbia hatte das schliesslich 27mal überlebt, ohne dass z.B. die kritische Kachel an der Flügelkante von unten her inspiziert oder gar ersetzt wurde! Beim 28. Start traf nun ein abgerissenes Isolations-Stück des zentralen Tankes eine Schwachstelle, und bei der Landung genügte ein Spalt, um schliesslich den ganzen linken Flügel abzuschmelzen, während alle übrigen Systeme den Orbiter bis fast zuletzt bewundernswert auf Kurs hielten!

Ein Rettungsversuch wäre problematischer gewesen als die Landung auf Risiko. Die Flucht in die Raumstation ISS war so unmöglich wie ein abholen der Crew von Shuttle zu Shuttle ohne genügend Raumanzüge und Training. Die Atlantis war nicht startbereit und allenfalls genau so gefährdet, überladen mit einer Zehnermannschaft. Eine fast sicher misslungene Rettungsaktion wäre den Kritikern Amerikas noch willkommener gewesen.

Fazit: Die ersten paar Starts nach der Wiederaufnahme von Flügen (frühestens ab April 2004) werden die sichersten sein, denn so lange werden die Beamten den Ingenieuren die Verantwortung überlassen. Good luck Atlantis!

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