Bote-Forum 2010/11 im «Bote der Urschweiz»

Abstimmen tun die Bürger,
nicht die Analysten

Als Mathematiker hat man gelernt, quantitative Gesetzmässigkeiten zu erkennen und statistischen Zufall von logischen Konsequenzen zu unterscheiden. Man kann es später nicht bleiben lassen, diese politisch unerwünschte Gewohnheit auch auf Diskrepanzen von Soll und Ist aller Art anzuwenden. Natürlich auch auf die Versuche veröffentlichter Meinungsbildung z.B. vor oder nach Abstimmungen.

Schon in jungen Jahren  nahm ich mir etwas Zeit, mich rechtzeitig über Sachvorlagen zu informieren, eine Meinung zu bilden und gleichzeitig die parallel dazu laufende Abstimmungspropaganda zu verfolgen. Diese wird bekanntlich selten ohne Prognosen geliefert. Da konnte es aber einmal vorkommen, dass man am Abstimmungstag selber stark beschäftigt oder gar im Ausland war. Nach Wochen oder Jahren wurde man in längst neuem Zusammenhang wieder auf das Resultat aufmerksam und wunderte sich, dass man einiges in falscher Erinnerung behalten hatte. Kein Zufall, und der Grund war fast immer der Gleiche: die Abstimmung war eben anders herausgekommen als es die veröffentlichte Meinung weit herum prognostiziert hatte.

Diese Überraschungen schienen System zu haben. Die prozentualen Unsicherheiten wurden zunächst immer den Linksparteien zugerechnet, oder die Konsequenzen eines Abstimmungsausganges wurden von den Prognosenvollstreckern so gedeutet, dass man als Medienkonsument selber schon am zu erwartenden Resultat zu zweifeln begonnen hatte. Die Interpretationen hinterher halfen ebenso wenig, das tatsächliche Resultat in Erinnerung zu behalten. Jedes Mal hatte der finanzielle «100:1- Aufwand» den Gegnern der einzig richtigen Meinung angeblich geholfen, das Volk «falsch» abstimmen zu lassen. Dies, obwohl man beim Inserate-Verhältnis alles andere als ein so drastisches Missverhältnis beobachtet hatte.

Ein andermal waren es die «stockkonservativen Landpomeranzen und Chnuppensager», die mit ihren ewiggestrigen Ansichten «falsch» abgestimmt hatten. Dies dürfte aber aus zwei Gründen unmöglich gewesen sein, denn wer die Dicke der bald unnötigen Telefonbücher richtig interpretiert, der weiss genau, dass das zahlreichste Stimmvolk in den Agglomerationen wohnt, wo mündige Bürger angeblich immer richtiger abstimmen. Aber es kam erneut doch anders heraus. Falls nun die Städter eben trotz ihrer Überzahl zu faul zum Abstimmen sind, dann würde das ja heissen, dass die ländliche Bevölkerung an der politischen Meinungsbildung verantwortungsvoller teilnimmt! Vielleicht, aber kaum in diesem Ausmass. Viel logischer ist, dass sich beide Seiten des Polit-Äquators nicht im Sinne der Classe Politique und schon gar nicht im Sinne der hinterher traditionell schlechten Verlierer entschieden hatten. So geschehen Ende 2009 und Ende 2010. Beide Male wurde mit umgepolten Fakten versucht, den Bürger anschliessend als unmündig zu diffamieren.

Noch scheinheiliger reagiert die Internationale der Angst vor diesem Bürger hinterher. Angst wohl nicht vor dem Bürger unseres kleinen Bergvolkes, sondern vor jenem in den EU-Mitgliedländern! Während mich nach einem Abstimmungssonntag noch nie eine negative Reaktion z.B. aus Deutschland erreicht hat, waren es fast regelmässig Gratulationen ob dem Mut der beneideten Eidgenossen, sich eigenständig entschieden zu haben. Also so, wie man offenbar auch im Ausland meist denkt – dort, wo man noch darf. Offiziell ist hingegen sofort ein Aufschrei der juristischen Vordenker in Brüssel zu hören, die uns hinterher gleich Tod und Teufel prophezeien, was sich bisher allerdings in jedem Fall als diametral falsch erwiesen hat.

Heilige Einfalt: wo war denn diese Keule des Völkerrechts, als General Mladic beim Zerfall von Ex-Jugoslawien die holländischen Vollstrecker der ach so gefürchteten Keule an Brückengeländern bei Sarajevo angekettet hatte? So lange, bis der Völkermord vollbracht war? Das Völkerrecht war erst wieder hergestellt, als ein weiteres Mal nach 1915 und 1941 Soldaten aus 10’000 km Entfernung herbeigeeilt waren und in den 1990er Jahren binnen weniger Tage den Massenmord auf völkerrechtlich geschütztem Euro-Boden gestoppt hatten. Stattdessen hackt man auf einer unter Heimatschutz verdienenden Volksdemokratie herum, ausgerechnet inmitten des neuen Europas!

Seit Jahren bersten unsere Unfälle-und-Verbrechen-Rubriken voller haarsträubender Schweizer Fälle mit Kriminellen aus Ländern, die längst für deren eigenen Zustand bekannt sind. Wenn sich das Volk endlich für ein Gesetz aufrafft, das bei der Umsetzung erfahrungsgemäss im besten Fall nur die allergrössten Schurken aus dem Land weist, dann setzen sich unsere oft zu Recht «Wischi-Waschi» genannten Parteien sofort wieder für deren Schutz ein! Im Namen des Völkerrechts, wohlgemerkt. Ein ganz anderes Verhältnis als bei der soeben geäusserten Volksmeinung dominiert die Analysen nach glücklichem Ausgang einer Abstimmung regelmässig in unserem Blätterwald. Die Radio-Stimmen sprechen nur noch von den armen Ausländern, welche ihre AHV-Nummer ins falsche Feld eingetragen haben, daher straffällig geworden sind und nun ausgeschafft werden müssten. Organisierte Kriminalität gibt es für sie schon gar nicht.

In Basel war gleich von der «Gefahr» die Rede, dass die Diktatur der Kommentare und Analysen im Monopolblatt durch einen anderen Besitzer, Verleger oder Chefredaktor «gefährdet» sein könnte. Wo man, wie z. B. in der «Weltwoche», auch «populistischen» Stimmen das Wort gibt. Solche im Basler Filz leider gar nicht mehr existierenden Kräfte wurden, wie ein unbotmässig ausserkantonaler Drummeli-Gewinner, sogleich vom Rheinknie weg geekelt. Das zuvor beschriebene Gewohnheitsrecht der Desinformation hat also da und dort im Lande immer noch eine «System stabilisierende» Wirkung. Weniger einseitig würde es ja die Wirkung verlieren.

Nur in Basel? Nein, denn neuerdings muss die wählerstärkste Partei der Schweiz ihre Versammlungen, wie vor 700 Jahren beim Rütli, auf eine Wiese verlegen, weil es in einem geschlossenen Lokal zu gefährlich gemacht worden ist.

Als ganz junger Assistent an der ETH, um etwa 1970, freute ich mich einmal über den Besuch eines wesentlich erfahreneren Nationalrates an einer meiner grösseren Veranstaltungen im Lande.  Er war ebenfalls Ex-Rorschacher, und ich hatte nie erwartet, ihn eines Tages leibhaftig kennen zu lernen. Er nutzte die Gelegenheit, dem politisch sicher noch sehr unbeschriebenen Blatt das Wichtigste über die Schweizer Politik für die nächsten Jahrzehnte mit auf den Weg zu geben: «Unsere sieben Bundesräte sind doch das intelligenteste Septett im Lande, aber alle zusammen entscheiden sich kollektiv jeweils wie der dümmste Bürger im Lande. Jene Millionen von Bürgern aber, lauter ungebildete, unzurechnungsfähige und verantwortungslose Typen, würden im Kollektiv bei Abstimmungen immer wieder wie ein verblüffend gescheiter Volksvertreter in Erscheinung treten.»

Hängt das wohl mit dem Titel dieser Kolumne zusammen?

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