«Konkurrenz schadet nur selten»
Kolumne im St.Galler Tagblatt am 18.10.2003
“Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben”, sagte der russische Weltraumtheoretiker Ziolkowski schon vor 100 Jahren. Wie viel deutlicher würde er wohl heute, nachdem der Mond betreten, das Sonnensystem weit über Pluto hinaus von Raumsonden durchmessen und die ersten Planeten um ferne Sonnen der Beobachtung zugänglich geworden sind? Vor wenigen Tagen ist nun die dritte Weltraumnation in den Club derjenigen vorgestossen, welche Menschen mit eigenen Raketen in einen Orbit befördern können. Aus mehreren Gründen ist dies ein historischer Moment. Immer dann, wenn eine Diktatur einen Schritt ins All macht, dann stösst die Raumfahrt sogar bei Unkundigen plötzlich auf grosses Verständnis, während selbst bei bedeutenden Erfolgen in einer Demokratie gleich alles kritisch in Frage gestellt wird. Offenbar ein Naturgesetz seit 45 Jahren, als die Sowjetunion mit Sputnik Bewunderung eingeheimst hat, und erst recht seit 34 Jahren, als nach dem Erfolg der Amerikaner auf dem Mond plötzlich nichts mehr gut sein sollte an der Raumfahrt. Freude herrscht nun in Ost und West über die Bestätigung durch die Chinesen, dass am extraterrestrischen Imperativ doch etwas sein muss! Wenn ein riesiges, aber armes, Land mit 700 Dollar durchschnittlichem Jahreseinkommen inzwischen immerhin 2.3 Mia Dollar jährlich aufwendet, um seinem Ziel von “Raumstationen und einer chinesischen Basis auf dem Mond” näher zu kommen, dann müsste sogar die Internationale der Technophobie aufhorchen.
Sachkundige Befürworter sagten es immer wieder: es gibt nicht einen Grund, um Raumforschung zu betreiben, sondern gleich eine ganze Reihe! Der Schreibende bemüht sich seit Jahrzehnten, diese Erkenntnis verständlich zu machen. Nun kommt also Schützenhilfe von der bevölkerungsreichsten Nation der Erde, der nicht verborgen bleiben konnte, dass unsere Zukunft kaum auf der Erde allein liegt. Je mehr sich die Vermutung verstärkt, dass uns im riesigen Universum weitherum niemand konkurrenziert, wird der Gedanke Ziolkowskis zur Einladung, diesen offenbar uns ganz allein gehörenden Lebensraum auch zu nutzen! Die Chinesen nahmen sich die Freiheit, dies ganz ungeniert auszudrücken. Sie sind ja dafür bekannt, dass sie in langen Zeiträumen denken, und wenn sie auch nur 200 Jahre in die Zukunft extrapolieren, dann haben sie ihre Phantasie mit einem teilweise besiedelten Planetensystem nicht einmal überborden lassen. Auch amerikanische Planer denken seit langem an die Besiedlung von Mars, die Industrialisierung des Mondes zwecks Schonung der Erde und den Austausch von Rohstoffen und Informationen zwischen Planeten und Planetoiden. Sie hüten sich aber, allzu offen darüber zu sprechen – aus Rücksicht auf den Steuerzahler und eine verbreitete Technikfeindlichkeit. Die Chinesen tun sich da viel leichter, weil ihre Planung diktatorisch durchgesetzt werden kann und ihre Intelligenzia als Nutzniesser solcher Entwicklungen die Begeisterung mit der Führung teilt.
Das chinesische Militär als Dachorganisation ihrer Raumfahrtagentur hat aber noch weitere Gründe, um den Fuss ins All zu setzen. Sie haben viel aufmerksamer als Andere beobachtet, wie die USA den “Schurkenstaat” Afghanistan in wenigen Wochen fast verlustlos militärisch neutralisiert haben, wo sich die scheinbar allmächtigen Sowjets selbst als Grenzland über ein Jahrzehnt hinweg eine blutige Nase mit Zehntausenden von Toten geholt hatten. Ähnliche Schlüsse zogen sie aus dem raschen Ende der Kampfhandlungen bei der Befreiung von Kuwait oder der Rettung tödlich bedrohter Völker in Jugoslawien – oder der Elimination des Schreckensherrschers im Irak. In allen Fällen täuschten sich die Militärexperten der betreffenden Regimes ebenso wie in den Zuschauerländern, ebenso der Schweiz: statt einer “vernichtenden Niederlage der Amerikaner” blieben erwartungsgemäss in allen Fällen nur Terroristennester übrig, welche ja der erklärte Auslöser für die Präventivschläge waren. Die chinesischen Militärs haben schneller als die übrige Welt verstanden, was den USA diese “magischen Kräfte” verliehen hat: die Augen und das “Nervensystem” ihres Satelliten-Netzes. Sie wissen, dass sich damit sogar das durchgehend militarisierte Nordkorea wie eine Armee von Blinden durch Sehende entwaffnen liesse. Sie fühlen sich wie Stalin, der von 1945 bis 1949 ohne Atomwaffen dastand. Dieser Unterlegenheit wollen sie nun so schnell wie möglich abhelfen. In vier Jahren wird das allerdings nicht gelingen.