Zum Columbia-Unfall im St. Galler Tagblatt 8. Februar 2003

«Sinn und Unsinn bzw. Zukunft der bemannten Raumfahrt nach dem Columbia-Unglück»
Kolumne im St.Galler Tagblatt am 8.2.2003

Paradox: wenn ein Unglücksfall wie mit der Columbia passiert, ist man froh, dergleichen nicht zum ersten Mal zu erleben. Langjährige Erfahrung mildert den unvermeidbaren Schock. Schon im Januar 1967 gab es den Brand in Apollo 1, der drei Opfer forderte. Titelzeile in der damaligen Schweizer Tageszeitung “Die Tat”: “US-Mondlandung nicht mehr vor 1972″. Dann jedoch fand die erfolgreiche sechste und letzte statt! Zuvor sorgte die glückliche Rettung der Apollo-13-Mannschaft für ein wesentlich verbessertes Raumschiff, und auch die Explosion von Shuttle Challenger im Januar 1986 hatte Fortschritte zur Folge, ohne die seither kaum 87 Raumtransporter unfallfrei geflogen wären. Nicht einmal die fatalen Abstürze von Sojus 1 und Sojus 11 konnten das russische Weltraumprogramm aufhalten. Jedes Mal aber wird die Frage nach Sinn oder Unsinn der Raumfahrt erneut gestellt, als ob sie nicht längst beantwortet wäre. Und als ob globale Wetterbilder, drahtloses Telefonieren rund um den Erdball, weltweites Fernsehen und Internet sowie erst recht GPS-Satellitennavigation auch ohne Raumfahrt einfach so vom Himmel gefallen wären – ganz abgesehen von Tausend anderen Erfindungen, die vielleicht auch einmal ohne Satelliten gemacht worden wären.

Sowohl die Ignoranz von allem, für das wir eigentlich dankbar sein müssten, als auch der indirekte Nutzen von Katastrophen ist historisch verbürgt. Die ganze Evolution der Organismen auf unserer Erde folgte ständig dem Prinzip Mutation und Selektion, allerdings viel brutaler, als es in unserer technischen Zivilisation abläuft. Das Wunder der Natur bestand immer darin, dass alles ausgestorben ist, was nicht funktioniert hat. Heute nun verlangen selbst die schwächsten Mitglieder von unvollkommenen Gesellschaften, dass in der Raumfahrt alles ohne ein einziges Opfer ablaufen solle. Noch vor exakt 100 Jahren, als der Motorflug begann, wurde der Fortschritt mit einem heute undenkbaren Blutzoll erkauft. Scheinbar gebildete Leute bezeichneten diese Versuche damals als sinnlos für alle Zeiten. Heute benützen selbst solche Kritiker das Flugzeug und vergessen, dass nicht einmal ein ganzes in der Luft verbrachtes Leben für einen Selbstmordversuch tauglich wäre. Etwa jeder 100. Europäer stirbt aber früher oder später im Strassenverkehr, vom Extremsport abseits gesicherter Pisten oder freiwillig verabreichten Industrieschadstoffen (Tabak und Drogen) ganz zu schweigen. Wenn nun bis dato 432 Astronauten und Kosmonauten freiwillig das Risiko auf sich nahmen, unseren Horizont auf Jahrtausende zu erweitern, und 18 dabei sterben (jeder 24.), dann verlangt man das Ende der Raumfahrt. Auch weit weg vom Geschehen, bei uns, im Epizentrum der Pisastudie.

Die Chinesenkaiser haben vor 500 Jahren ganz ähnlich die Weltreisen per Schiff verboten und so ihrem Volk den Weg gewiesen. Obwohl sich ihr Schriftzeichen für “Chance” aus “Katastrophe” und “Möglichkeit” zusammen setzt und ihnen der Zusammenhang zwischen Risiko und Fortschritt sehr wohl bekannt war. Noch in diesem Jahr versuchen sie, als dritte Nation zum Club derjenigen zu stossen, welche Astronauten selber ins All befördern können. Derzeit arbeiten schon 100’000 Menschen in aller Welt am Aufbau der Internationalen Raumstation, dem ersten ständig bemannten Aussenposten der Erde. Die Weltraumindustrie generiert weltweit jährlich 100 Milliarden Dollar Bruttosozialprodukt, und das schon heute im wahrsten Sinne umweltfreundlich. Und morgen? Wenn dereinst auch nur ein einziger Grossmeteorit abgelenkt werden kann, haben sich alle Aufwendungen der Raumfahrt gelohnt. Seit der Entstehung der Erde sind nämlich Dutzende von solchen Kleinplaneten nieder gegangen, von denen jeder erneut alle höheren Lebewesen vernichten würde. So etwas lässt sich verhindern? Die Mondlandung war schwieriger! Abgesehen von der Prävention: Ein zweiter Planet ist die beste Lebensversicherung. Mars ist eine solche Welt, von der Flugzeit her nicht weiter entfernt als die Südsee vor 300 Jahren. Astronauten sprechen völlig selbstverständlich von Marsmenschen: von uns! Auch nach Columbia. Falls leistungsverweigernde Prognosenvollstrecker den Gang der Welt bestimmen, dann bin ich allerdings weniger optimistisch. Vor allem, was Europa anbelangt, das auch in diesem Jahrhundert noch nicht Brandstifter von Feuerwehrleuten unterscheiden kann.

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