«Raumfahrt wird uns einst das Überleben sichern»
Interview in der Berner Zeitung vom 3.2.2003
Raumfahrt-Experte Bruno L . Stanek glaubt nicht, dass der jüngste Unfall im Weltraum die Raumfahr lähmen wird. Vielmehr gibt er sich überzeugt, dass «Raumschiffe gerade dank Unfällen künftig noch sicherer werden».
Interview: Fredy Gasser
Herr Stanek, bereits sprechen viele vom schweren Rückschlag für die gesamte Raumfahrt – besteht Grund dazu?
Bruno L. Stanek: Aus geschichtlicher Sicht ist diese Aussage traditionell übertrieben. Es ist der vierte Unfall dieser Art: zwei bei den Russen – beim 1. Sojus und beim 11. Sojus; die anderen zwei die «Challenger» vor 17 Jahren beim Aufstieg und jetzt die «Columbia» vor der Landung. Aber jedesmal ist es weitergegangen, jedesmal sind die Raumschiffe besser geworden. Unfälle gehören zum Lernprozess, genau wie vor 100 Jahren bei der Luftfahrt.
Das tönt hart.
Es tönt hart, aber die Welt ist noch härter. Es ist ein Rückschlag, aber hoffen wir, dass er – wie die Vergangenheit oft gezeigt hat – zu einem Fortschritt führt.
Astronauten und Bodenpersonal stecken einen solchen Unfall wohl nicht leicht weg.
Wie gesagt: Denken Sie an die Luftfahrt in deren Anfängen. Da waren lauter Freiwillige, die ihr Leben riskiert und fast eben so oft auch verloren haben. Immer ist es weiter gegangen. Bei den Astronauten ist es so: Jeder ist sich der Gefahren bewusst, jeder bespricht dies mit seiner Familie. Aber trotzdem macht jeder mit, und hinter ihm stehen viele, die gerne bei der realen Science Fiction mitmachen würden.
Aufhalten lässt sich keiner.
Nein, Astronauten wissen, was für eine wichtige Aufgabe sie für die Menschheitsgeschichte leisten. Und dafür riskieren sie ihr Leben. Jeder 30. hat es verloren. Etwa jeder 100. Schweizer verliert es im Verlaufe seiner Lebensspanne auch – im oft sinnlosen Strassenverkehr.
Was ist denn so bedeutend etwa an den Erkenntnissen, wie sich Proteine im schwerelosen Raum verhalten?
Das kann Ihnen Dr. Cogoli von der ETH sehr genau erklären. Langfristig wird die Raumfahrt das sein, was als einziges unser langfristiges Überleben sichern kann.
Das sagen Sie, weil Raumfahrt Ihr Fachgebiet ist.
Nein. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Schon mehrere Male in der Jahrmillionen alten Geschichte der Erde ist diese mit einem Kleinplaneten kollidiert, der jedes Mal fast alles Leben zerstört hat. Wenn es jetzt eines Tages wieder heisst, ein Kleinplanet nähere sich der Erde, es dauere z.B. noch fünf Monate bis zum Absturz – da wollen doch sicher alle wissen, wo er und wann genau er abstürzt. Alle Astronomen rechnen, die Zeit vergeht, aber den Absturz verhindern kann niemand. Spätestens dann wird es heissen: Wo sind die Amerikaner, sie können ihn doch runterschiessen – etwas, was technisch absolut machbar ist. Aber die Menschheit wird so nicht zu retten sein, wenn man die Raumfahrt heute nicht wagt. Irgendwie ähnlich, wie die Chinesenkaiser vor gut 500 Jahren die Weltumsegelungen verboten und ihrem Volk den Weg gewiesen haben.
Also ist der Fortschritt wichtiger, für den hohen Preis von katastrophalen Unfällen.
Ohne Unfälle geht es nie, weder im Luft- noch im Strassenverkehr. Den Schwächsten unter uns möchte ich sagen: nicht einmal der Drogenkonsum ist gefahrlos. Raumfahrt ist innerhalb Technologiegeschichte eine der unfallfreiesten Aktivitäten, die der Mensch je unternommen hat.
Hat der Unfall der «Columbia» Sie persönlich nicht berührt?
Natürlich hat er mich getroffen, und sofort ist mir in den Sinn gekommen, wie es vor 17 Jahren bei der «Challenger» war, obwohl ich damals wie diesmal fast zufälligerweise keinen der Astronauten persönlich gekannt hatte. Ich war einen Tag schockiert, zum Glück 48 Stunden fast rund um die Uhr beschäftigt, und wir fragten uns: wie gehts weiter?
Lassen sich die Unfälle «Columbia» und «Challenger» vergleichen?
Die Situation ist heute wesentlich besser. Damals hat man zunächst überhaupt keine Ahnung, weshalb es zum Unfall gekommen ist. Man wusste insbesondere nicht, ob die Ursache beim Orbiter oder bei den Tanks oder den Feststofftriebwerken lag. Diesmal hat man aber noch drei intakte, bis zu 30mal geflogene Orbiter, die auf jede mögliche Schwachstelle untersucht werden können. Heute hat man die Erfahrung von 111 erfolgreichen Shuttle-Flügen!
Zumal es bereits Verdachtsmomente gibt.
Ja, die gibt es: Die «Columbia» war alt; man ist bis an die Limiten gegangen. Sie war in gewissem Sinn auch veraltet, ist noch schwerer als jüngere Modelle, die bei kleinerem Gewicht bereits über die höhere Festigkeit verfügen. Sie war auch stärker umgebaut: das Cockpit hatte bei den ersten vier Testflügen noch eingebaute Schleudersitze und Columbia war für längere “Freiflüge” (unabh. Raumstation) abgeändert.
Astronauten wissen um die ungeheuren Kräfte – und machen trotzdem mit.
Es ist eben unwahrscheinlich schön dort oben, eigentlich jenseits von schön, sagt jeder Astronaut, der zurückkam. Und die Erfahrung zeigt: 80 Prozent der gesamten Unfallwahrscheinlichkeit haben Astronauten hinter sich, wenn sie im Orbit ankommen; die restlichen 20 Prozent sind es bei der Landung. Ihre Gefährdung im All selber ist so gering, dass man sie gar nicht rechnet. Anders gesagt: Astronauten müssen nach dem Start achteinhalb Minuten auf die Zähne beissen. Dann sind sie in ihrem Paradies, auf das sie sich ihr Leben lang vorbereitet haben, und erleben u.a. 16 Sonnenauf- und untergänge innert 24 Stunden und “Space Night live”…
Bruno L. Stanek (60) beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Raumfahrt. Seine TV-Übertragungen der «Apollo»-Missionen zum Mond sind legendär; seit 1997 bietet er sein Wissen in einem laufend nachgeführten Multimedia-Lexikon an. Näheres unter: www. stanek.ch.